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  • Das hört NICHT auf. Trauma, Literatur und Empathie
  • Carl Pietzcker
Das hört NICHT auf. Trauma, Literatur und Empathie. Von Hannes Fricke. Göttingen: Wallstein, 2004. 282 Seiten. €28,00.

Theorie und Therapie psychischer Traumata haben in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend Beachtung gefunden. Auf sie beruft sich Fricke in dieser literatur- und darüber hinaus kulturwissenschaftlichen Arbeit, mit der er den Anspruch erhebt, auf [End Page 400] dem empirisch überprüfbaren Fundament der ihrerseits hirnphysiologisch fundierten Traumaforschung ein neues Verfahren zum Verständnis von Texten vorzulegen, welche Traumata und deren Folgen darzustellen versuchen. Sein Augenmerk gilt vor allem den Figuren in ihnen, deren Verhalten, Erinnern und Sprechen, das er als anthropologisch konstant versteht; Erinnerungen an traumatische Erfahrungen würden im Gehirn ja auf immer gleiche Art gespeichert. So trägt er an solche Texte, auch wenn sie unterschiedlichen Zeiten und Gesellschaften entstammen, immer dieselben Schemata der Traumaforschung heran. Diese hält Fricke sich als Konstruktionen bewußt, als revidierbar also. Wichtigster Bezugspunkt der breit erarbeiteten Traumaforschung ist ihm das Lehrbuch von G. Fischer und P. Riedesser; mit diesen betont er gegen die Einschränkung auf frühkindliche Erfahrung die Möglichkeit, lebenslang Traumata zu erleiden. Bedeutsam für seine Literaturanalysen sind ihm vor allem die Forschungen zum Traumafolgezustand, den posttraumatischen Belastungsstörungen, charakterisiert etwa durch fragmentiertes Erinnern ohne zeitliche, räumliche oder gar kausale Zusammenhänge, häufig in Form aktuellen Durchlebens im Flashback, ausgelöst von einem dem Trauma assoziierten Trigger, charakterisiert auch durch immer neue Versuche, das Trauma zu integrieren, oder sogar durch Subjekt-Objekt-Vertauschung: Das Opfer identifiziert sich mit dem Täter.

Getragen ist die Studie bei aller wissenschaftlichen Nüchternheit von einem Ethos, das gegen postmodern verantwortungsfreies literaturwissenschaftliches Spiel die Leiden, welche in den Texten ihren Ausdruck suchen, empathisch ernst nimmt. Frickes Empathie gilt vor allem den einzelnen Figuren, aus deren durch traumatische Erfahrungen vorgeprägter Perspektive die Texte in ihrer Struktur sich oft erst erschließen ließen. Solche Erfahrungen Einzelner sucht er gegen verharmlosende Stilisierungen und Abstraktionen zu retten, auch gegen die durch den Kanon. Seine 24 Beispieltexte, die er "Modellanalysen" unterzieht, reichen denn auch weit über den Kanon hinaus: von der Ilias über den Simplizissimus, Catharina von Georgien, Moby-Dick, 1984, Christa Wolfs Kassandra, Arundhati Roys Der Gott der kleinen Dinge, den Herrn der Ringe und Hoegs Plan von der Abschaffung des Dunkels bis beispielsweise zu Rambo, einem Batman-Comic, Schlinks Vorleser, Grass' Im Krebsgang oder dem Schweigen der Lämmer. Diesen und weiteren Texten nähert er sich mit eher traumatologischem Erkenntnisinteresse und nutzt sie als Dokumente, an denen klinische Erkenntnisse sich anschaulich vorführen und belegen lassen. Hierbei erweitert er auch das Verständnis fiktionaler Figuren und das der Strukturen literarischer Texte.

Fricke geht den Weg vom vergegenwärtigenden Beispiel über dessen kommentierende Explikation zur Begriffsklärung und schließlich zur Reflexion. Dies gilt für den Aufbau des Buchs, das in der Einleitung anhand der Kerkerszene des Urfaust ihm wichtige Ergebnisse der Traumaforschung anspricht, die es im Hauptteil dann an literarischen "Fallbeispielen" untersucht. Diese ordnet er entsprechend den Rubriken des traumatologischen Lehrbuchs nach traumatisierenden Momenten wie Vernachlässigung, Folter oder Krieg sowie den Versuchen, sie psychisch zu bewältigen, und entfaltet sie anschaulich in den Analysen, wo er sie dann auch begrifflich präzisiert. Im kurzen Schlußkapitel folgen reflektierende Auswertungen vor allem zu der Art des Erzählens und weiterführende Überlegungen zu den Möglichkeiten der Literatur, Traumata kraft ihrer Narrative zu integrieren und so deren Folgen zu bewältigen.

Diesem Prinzip, das von der Vergegenwärtigung zur Reflexion führt, sind [End Page 401] auch die Unterkapitel des Hauptteils verpflichtet, die sich jenen traumatisierenden Momenten widmen. Als Beispiel mag Unterkapitel 6, "Sexualisierte Gewalt," genügen. Es setzt mit einer kurzen Paraphrase von Ovids Erzählung um Procne, Philomela und Tereus aus den Metamorphosen ein. Das ist beileibe keine "Modellanalyse," sondern eine anschauliche Hinführung zum Thema, wie der Autor skizziert: "Die in der Erzählung aufgezeigten Motive und Handlungszusammenhänge (Wer vergewaltigt wen warum? Wie reagiert die Umwelt des Täters und des Opfers? Wie reagiert das Opfer [. . .]? Gibt es Rachephantasien—und wenn ja, von wem? Wie verändert sich das Leben aller...

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