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Reviewed by:
  • Benjamin-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung
  • Rolf J. Goebel
Benjamin-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Herausgegeben von Burkhardt Lindner unter Mitarbeit von Thomas Küpper und Timo Skrandies. Stuttgart: Metzler, 2006. xiii + 720 Seiten. €64,95.

Benjamins gegenwärtige Wirkung auf der Bühne der internationalen Kulturwissenschaften rekapituliert als Meta-Phänomen jenen historischen Index, den er selbst in (Sprach-)Bildern der Vergangenheit aufzufinden glaubte. So wie diese Bilder einerseits der bestimmten Zeitepoche ihrer Entstehung angehören, aber erst später im "Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit" ihre volle Bedeutung und Wahrheit enthüllen, so enthalten auch Benjamins eigene Texte eine immanente Dynamik, die ihnen eine verspätete, aber desto lebendigere Rezeption zusichert und auch heute noch nicht voll ausgeschöpft ist. Sie hat dem Verfasser mittlerweile jenen Status wissenschaftlicher Autorität verliehen, der ihm größtenteils zu seinen Lebzeiten, durch die gescheiterte Universitätskarriere, durch Publikationszwänge und Exilnot, versagt geblieben war. Freilich bedarf die Aktualisierung dieses Zeitkerns, also die Anwendung, konzeptionelle Übersetzung und thematische Erweiterung von Benjamins Thesen in neuen Argumentationszusammenhängen bzw. kulturellen Kontexten, immer auch einer kritisch-philologischen Aufarbeitung seiner Einzeltexte, die sozusagen die hermeneutische Notbremse im zuweilen allzu rapiden Rezeptionszugverkehr darstellt.

Eine verläßliche Kartographie und Navigationshilfe auf dem Benjamin'schen Terrain liefert das vorliegende Handbuch auf vorbildliche Weise. Als Produkt einer internationalen und generationsübergreifenden Zusammenarbeit vereint es eingehende Information zu Biographie, Quellen, Einführungen, Materialien und der Rezeptionsgeschichte in diversen Methodenparadigmen mit ausführlichen, detailgenauen Analysen der Einzelschriften, die nach fünf Themenkreisen arrangiert sind: intellektuelle Freundschaft; Messianismus, Ästhetik, Politik; Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik; Dichtungsanalyse und Autorbild; sowie Sprachphilosophie, literarisches und autobiographisches Schreiben. Werk-, Namens- und Sachregister erleichtern den Gebrauch dieses umfangreichen Bandes, auch wenn letzteres Register für einige Kerntermini—Historismus, Nachgeschichte, Phantasmagorie, Überlieferung—seltsam wenige Belegstellen aufführt. Zu Recht legitimiert der Herausgeber das Organisationsprinzip des Bandes damit, daß eine "vereinheitlichend[e] Nacherzählung von Werkphasen" oder die "vorschnell[e] Herstellung eines Gesamtbildes" bzw. eine chronologische Anordnung der Beiträge Benjamins eigner Methode zuwider laufen würde (x), die in verschiedenen Entstehungszeiten und Produktionskontexten immer wieder auf bestimmte Kernideen variierend zurückkommt und damit eine Einteilung in Früh-, Mittel- oder Spätphasen fragwürdig macht. Dennoch aber hätte man sich zuweilen doch einige Überblicksartikel gewünscht, die Benjamins Denkkonstellationen im oft [End Page 399] unübersichtlichen "Dickicht der Texte" (xi) hätten zusammenfassen können, ohne die Vielfältigkeit—manchmal auch Widersprüchlichkeit—der Einzelmomente auf eine totalisierende Metaerzählung hin zu reduzieren.

Nicht unbedingt wird man Lindner zustimmen können, wenn er Benjamins von Adorno schon früh betonte philosophische Ausrichtung programmatisch abgegrenzt von der—angeblich irrigen—Auffassung, "daß Benjamins Schreiben im wesentlichen essayistisch, metaphorisch, literarisch ausgerichtet sei und somit ein Arsenal aparter Formulierungen biete, aus dem jedermann sich unbekümmert bedienen könne" (viii). Der von Lindner betonte Gegensatz von philosophischer Denkart und figurativ-literarischem Essay-Stil ist ein nur scheinbarer, denn Benjamin selbst hat immer wieder auf die dialektische Einheit seiner Methode verwiesen, die durch theoretische Reflexion und imaginative Intuition eine philosophische Wahrheit in Realitätspartikeln zu entdecken sucht, die gerade durch die Einkleidung in metaphorische Sprache ihre monadologische Repräsentanz erlangen. Dementsprechend betont auch Lindner, "daß es keinen Text Benjamins gibt, der ohne Reflexion auf die Medialität von Sprache, Schreiben und Schrift wäre" (xi). Eben deswegen aber unterminieren Benjamins Denkbilder immer wieder die herkömmliche Grenze zwischen Philosophie und poetischer Einbildungskraft. Nicht die transgressive Literarizität ist es, die für die von Lindner zu Recht beklagte Willkür in der Benjamin-Rezeption verantwortlich ist, sondern eher die diesem Aneignungsmodus zu Grunde liegende Konsumhaltung, die im Zeitalter des globalen Kapitalismus auch noch die sperrigsten geistigen Produkte als rezyklierbare Waren des Wissenschaftsbetriebs und der Kulturindustrie zu verwerten geneigt ist.

Insgesamt sei aber betont, daß die Mammutarbeit Lindners und seines Teams sich ausgezahlt hat. Obwohl Vollständigkeit natürlich nicht möglich und auch kaum erstrebenswert wäre, bietet das Handbuch eine ausgezeichnet recherchierte, interpretatorisch suggestive und methodisch pluralistische Bestandaufnahme des gegenwärtigen Wissensstands. Diese Aufarbeitung, wie sollte es anders sein, reizt oft zur Zustimmung, stellenweise auch zum Widerspruch, bahnt aber auf jeden Fall einen Weg zurück zu den Texten selbst. Eine Einführung im...

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