University of Wisconsin Press
  • Hölderlins Kinderspiel Hyperion:Ideologiekritik oder Wahnvorstellung?

Was uns fehlt.—Wir lieben die große Natur und haben sie entdeckt: das kommt daher, daß in unserem Kopfe die großen Menschen fehlen. Umgekehrt die Griechen: ihr Naturgefühl ist ein anderes als das unsrige.

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Kein anderes Jahrhundert hat sich der Erziehung des Menschengeschlechts so sehr gewidmet wie das Zeitalter der Aufklärung. Die Neubestimmung herkömmlicher Bildungs- und Erziehungsbegriffe führte zu einem "Aufblühen vom klassischen und romantischen Bildungs- und Künstlerroman," der dem neuen Zeitempfinden zu genügen trachtete.1 In die Zeit jenes kulturphilosophischen Umbruchs gehört neben Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) der Briefroman Hyperion, in dem Hölderlin in bewusster Abgrenzung gegen die fortschrittsfreudige Spätaufklärung und im Anschluss an Rousseaus Kulturkritik zu neuem Aufbruch auffordert.2 Rousseaus erziehungsphilosophisches Werk Émile ou de l'éducation (1762), von Kant3 und Herder4 im Lob wie im Tadel gewürdigt, hat auch bei Hölderlin unauslöschliche Spuren hinterlassen, nicht zuletzt in der Ausformung seines Natur- und Kindheitsideals, mit dem er sichtlich an die Kindheitsideologien bzw. -utopien des ausklingenden 18. Jahrhunderts anknüpft. Merkwürdig ist die Tatsache, dass das Motiv der Kindheit bisher immer nur als Bildungselement, nie aber als Ideologem gedeutet wurde, durch welches Hölderlin seine ontisch-ästhetische Weltanschauung artikuliert.5 Die vorliegende Untersuchung wird nicht nur die Kindheitsthematik [End Page 63] im Hyperion erörtern, sondern auch die wiederholten Regressionen des Helden ans Licht bringen, denen eine Identitätskrise zugrunde liegt.

Die "Kindheit als poetische Lebensform" und nicht mehr das Naturgenie Shakespearscher Prägung rückt nun in den Mittelpunkt der Betrachtung.6 War die Genieästhetik mit der Wiederentdeckung und Aufwertung irrationell schöpferischer Naturkräfte gegen die Ratio und deren Mythologiefeindschaft zu Felde gezogen, so widersetzt sich die Kindheitsästhetik einer zunehmenden Verwüstung der Mutter Erde durch die auf Sophismen beruhende Systemvernunft der Aufklärung. Schillers Zeitdiagnose zufolge sei das Kind "die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wunder ist, wenn uns jede Fußstapfe der Natur außer uns auf unsre Kindheit zurückführt."7 An anderer Stelle heißt es:

In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keinesweg die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt.8

Das Kind erscheint demgemäss als Sinnbild für die Vorstellung, die sich die Menschengattung von ihrer unendlichen Naturverbundenheit macht. Dieser archetypischen Vorstellung komme nach Carl Jungs Ansicht eine psychologische Vermittlungsfunktion zu, insofern als sie als "Brücke zwischen dem von Entwurzelung bedrohten Gegenwartsbewußtsein und der naturhaften, unbewußt-instinktiven Ganzheit der Vorzeit" diene.9 Bei aller Triftigkeit erweist sich Jungs Beobachtung gerade wegen ihrer Verallgemeinerung als wenig ergiebig.

Hölderlin geht es in dem Briefroman weniger um eine direkte Gegenüberstellung von Kinder- und Erwachsenenwelt als um eine dichterische Umsetzung des kindlichen Geistes in Natur und Gestalten, um an das Herz des Lesers zu appellieren, wozu auch das epistolarische Werther-Verfahren beisteuert. Alle über den Text verstreuten Aussagen zur Kindheit verdichten sich zu einer Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, deren Intensität sich von einer Klage über den Verlust des Sinns für Naturunmittelbarkeit und kindliche Herzenseinfalt bis zu einer verzweifelten Scheltrede auf die Deutschen steigert. Neben den oft auftauchenden Mutter-Kind-Metaphern und Floskeln "wie ein Kind" oder "wie die Kinder" (XI 622, 660, 665, 709, 716, 776) trägt zur Kindheitsthematik ebenso die Verkindlichung der handelnden Gestalten bei, deren vage Konturen ihnen meist Gleichnischarakter verleihen.10 Hinzu kommen noch die "ans Primitive grenzende[n] Einfachheit"11 der mitmenschlichen Beziehungen wie auch die durchgängige Anwendung der vier Urelemente, die Hölderlins Zuneigung zum Mythischen unschwer erkennen lassen.12 Dieses abstrakte Schreibverfahren ist als Bestandteil eines Erneuerungsprozesses anzusehen, [End Page 64] der in mancher Hinsicht dem Rousseaus vergleichbar ist, zumal das Motiv der Kindheit auch bei ihm zum Angelpunkt einer Umkehr wird.

Nicht zufällig hebt der Briefroman mit Hyperions Heimkehr an den griechischen Idyllenort seiner Kindheit an, wo die Natur ihn einst noch als unschuldiges Kind empfinden ließ, was ihm sein väterlicher Mentor, Adamas, bei seinem Abschied anvertraut hatte: "Es ist ein Gott in uns,[. . .], der lenkt, wie Wasserbäche, das Schiksaal, und alle Dinge sind sein Element" (XI 596). Dort stimmt Hyperion einen wehmütigen Lobgesang auf die Kindheit an, für deren Herzinnigkeit er keine Begriffe findet. Die Unmöglichkeit einer leiblichen Rückkehr an die Verjüngungsquelle entlädt sich elegisch in den Worten:

Daß man werden kann, wie die Kinder, daß noch die goldne Zeit der Unschuld wiederkehrt, die Zeit des Friedens und der Freiheit, daß doch Eine Freude ist, Eine Ruhestätte auf Erden!

(XI 642)

Hyperions Überzeugung von der Autonomie der Kindheit entspricht, was Rousseau etwa zwei Jahrzehnte zuvor lakonisch über die Kindheit schrieb: "On ne connaît point l'enfance."13 Rousseau begehrt gegen eine begriffliche Festlegung der Kindheit mit um so größerer Vehemenz auf, als er im Kind eine in sich freie Totalität mit eigenem Wachstumsrhythmus erblickt, deren Lebensform im Gegensatz zur zukunftsfreudigen Erwachsenenwelt reine Gegenwart ist. Zur Veranschaulichung der Kindheit als eines insularen Schutz- und Freiheitsraums fügt Rousseau erläuternd hinzu: "L'enfance est le sommeil de la raison."14 Beide einander ergänzenden Axiome treffen vollends auf Hyperions Kindheit zu, zumal diese sich in deutlicher Analogie zu Rousseaus Grundsatz entfaltet, nach dem das Kind zur Wahrung seiner naturhaften Eigenständigkeit einer außergesellschaftlichen Natursphäre bedarf. So nimmt es nicht wunder, dass Hyperions Eltern schattenhaft im Hintergrund bleiben und nur sporadisch erwähnt werden, wie zum Beispiel bei Hyperions Abreise nach Smyrna oder nach der gescheiterten Kriegstat, die mit einem väterlichen Bannfluch belegt wird. Die Erziehung vollzieht sich außerhalb der Familienzelle unter der Anleitung des Mentors Adamas.

Wie "Jean-Jacques" in Émile, dessen Pädagogik Unabhängigkeit, Einheit und Harmonie der Naturkräfte im Kind fördern soll, stellt Hölderlin seinem Helden Hyperion den Pflegevater Adamas an die Seite, dessen Onomastik sowohl auf ein Edelgestein wie auch auf den Wächter des Eden-Gartens hinweist.15 Man kann sich Jürgen Link nur mit Vorbehalt anschließen, wenn er in "Adam"-as Hölderlins Bekenntnis zu Rousseau als "seinem entscheidenen 'Erzieher'" wittert.16 Dafür spricht zwar die Schilderung des reformierten, der dürren Kunstwelt überdrüssig gewordenen Adamas, der in vielen Zügen an Rousseau erinnert und wie dieser vor den Kulturpeinigern seiner Zeit die Flucht ergreift, um sich desto inniger der Natur und der Erziehung der Kinder zu widmen. Doch weicht Adamas von Rousseaus Pädagogik dadurch ab, dass [End Page 65] er dem Kind neben "Zahl und Maas" auch einen an "Spinoza" orientierten gottbeseelten Naturmystizismus zuteil werden lässt, dem sich eine Begeisterung für "die Heroenwelt des Plutarch" und "das Zauberland der griechischen Götter" zugesellt (XI 592).17 Hyperions eng eingegrenztes Inseldasein öffnet sich gerade dadurch zum Unendlichen hin. Offenbar berücksichtigt Adamas' gesellschaftsferne Naturerziehung weniger den potentiellen Bürger als den Naturmenschen, denn sie beschränkt sich lediglich auf den Lebensabschnitt der Kindheit, als sei diese Wachstumsphase des Lebens die einzig Wertvolle.

Dementsprechend entschwindet Adamas nach Erfüllung seines Kindergottesdienstes nach Kleinasien, um dort primitiven, noch von kindheitlichen Lebensformen geprägten Völkern auf die Spur zu kommen. Im Wunsch nach Rückkehr zum Ursprung drängt sich dem heutigen Leser das Bild eines von Regressionswünschen beseelten Erwachsenen auf, wofür die Literatur von Rousseau18 bis zum Hölderlin-Bewunderer Gottfried Benn19 zahlreiche Beispiele bereithält. Für Hölderlin aber gleicht die Kindheit einer Zauberlaterne, an deren Leuchtkraft sich der Erwachsene in erinnernder Rückschau orientieren könne, um den Weg zur Natur zurückzufinden. In gleichem Sinne legt Hölderlin seinem Helden diese Worte in den Mund: "Vollendete Natur muß in dem Menschenkinde leben, eh' es in die Schule geht, damit das Bild der Kindheit ihm die Rückkehr zeige aus der Schule zu vollendeter Natur" (XI 677). Mit der Natur beginnt und schließt sich die Kreisbahn des Lebens. Auch Hölderlin spricht gleich Herder und Novalis von "Kinderharmonie" und "Pflanzenglük," bei ihm aber erhält der Naturbegriff vor dem Hintergrund der Platonisch-Rousseauschen Gedankenwelt eine ontisch-ästhetische Dimension, durch die er sich entschieden von seinem väterlichen Mentor Schiller abhebt (XI 658).

Wenn Schiller in bezug auf "die Pflanzen" schreibt, "sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen," so strebt er "auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit" jene naturhafte "Ruhe" an, die wirkungsästhetisch vom Pflanzlichen ausströmt.20 Das Vegetative dient ihm nur als Gleichnis zur Veranschaulichung der im ästhetischen Erlebnis ohne Herrschaftsanspruch waltenden "Ruhe". Das Naive sei deshalb nicht mehr reine Natur, sondern "eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird."21 Dem Naiven wohnt sonach ein sentimentalisches Moment inne.22 Während Schiller Rousseaus Naturbegriff durch eine ästhetische Erziehung verbürgerlicht, hält Hölderlin am Bild vom guten Naturmenschen fest, dem er aber eine Wendung ins Ästhetische gibt. Der Mensch ist für Hölderlin bei der Geburt "schön," d.h. gut und wahr, wird aber von der Zeitgeschichte verunglimpft. Hölderlins Einheitspostulat deutet sich stilistisch in der Zusammensetzung "schöngeboren" an, die in dem Ausruf "Diotima!, schöngebornes Leben!" anklingt (XI 748) und in der Scheltrede wie ein dumpfes Echo widertönt: "Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schöngeboren sind" (XI 778). Das im ästhetischen Schein erfüllte "Ideal der Gleichheit," wie es Schiller im ästhetischen Staat verwirklicht sieht, wird nicht mehr als ein in ferner Zukunft einzulösender [End Page 66] Anspruch, sondern als ein naturgeschichtlich verbürgtes Faktum aufgefasst, wofür die Trümmerstätte Athens in ihrer gespenstischen Größe haftet.23

Das jenseits der Rang- und Vermögenssphäre angesiedelte Schönheitspostulat gehört in Hölderlinscher Sicht zum Universalerbe der Menschheit und wird darum zum ästhetischen Imperativ des Lebens erhöht. Diese Erkenntnis kommt in der vielzitierten, oft als Hybris mißverstandenen Äusserung zum Vorschein, "der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön" (XI 678), schwingt aber auch in noch umfassenderer Form am Erzählschluss in den christlich gefärbten Worten mit: "wir lieben den Aether doch all' und innigst im Innersten gleichen wir uns" (XI 781).24 Bei der Konstruktion seines Schönheits- bzw. Gleichheitspostulats denkt Hölderlin sichtlich auch an Platons Idee von der Bestimmung des Menschen als "himmlische[r] Pflanze," wie sie in Adamas' Erziehungspensum vorgebildet ist.25 Von diesem ontologisch fundierten Schönheits- und Gleichheitspostulat her erhält Hyperions Geschichtsverständnis entscheidende Impulse.

Hyperion bedient sich des Schönheitspostulats als anthropologischer Sonde zur Einschätzung des Entnatürlichungsprozesses antiker Nationen, wovon eigens die "Seelengespräche" zwischen Hyperion und Diotima über Ägypten, Athen und Sparta zeugen (XI 665). Die Trefflichkeit der Athener erblickt Hyperion in der Aufeinanderfolge von Dichtung, Religion und Philosophie als dem Kult des Schönen (XI 679). Hyperions Weltschau zufolge konnte das Volk der Athener nur deshalb eine lange Blütezeit erleben, weil dessen Kindheit, frei von allen äußeren Einflüssen, d.h. "sich selbst überlassen, wie der werdende Diamant" gediehen war (XI 676). Die Athener schöpften aus einem natürlichen Vermittlungsbewusstsein, das von Hölderlins Jugendfreund, Hegel, als "die Mitte freier Lebendigkeit" gekennzeichnet wird.26 Ganz anders aber erging es Sparta. Die spartanischen Kinder blieben Fragmente, weil sie verfrüht der seligen Insel ihrer Kindheit entrissen und durch Zucht und Zwang zu staatstreuen Kriegern erzogen wurden. Die von den Athenern als vollkommene Harmonie mit der Natur empfundene Kindheit gilt als Voraussetzung für ein freies und friedliebendes Volk. Was Schiller "dem Bedürfnis nach" "jeder feingestimmten Seele," "der Tat nach" aber nur "einigen wenigen auserlesenen Zirkeln" zumutet, wird Hölderlin zu einer unmittelbar nachzuholenden Wahrheit.27 Aus diesem Kontext heraus ist denn auch Hyperions apodiktischer Spruch zu verstehen: "Ideal wird, was Natur war" (XI 658).

Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, wie das freistaatliche Urbild Athens sich mit Hyperions Kriegslust verträgt, die aus dem Schwärmen für Plutarchs Heroenkult erwächst und sich dann vitalistisch durch "das ungeheure Streben" in Tötungs- und Reinheitsphantasmen entlädt (XI 596). Man hat jüngst an Hyperions "massiv eliminatorischen, menschenverachtenden Reinheitsphantasien" Anstoss genommen, weil man in ihnen eugenische Züge hat sehen wollen.28 In ihnen spiegelt sich zweifellos die ominöse Dialektik von Mythos und Geschichte, Reinheit und Gewalt, wie sie die Französische [End Page 67] Revolution in dem gleichfalls von Rousseaus Lehren erfüllten Reinheitsfanatiker Robespierre hervorbrachte. Zwar führte Robespierre keine "heilige Theokratie des Schönen," dafür aber "das Fest des Höchsten Wesens" ein (XI 701).29 Hyperions Reinigungsphantasmata haben gewiß zur Vereinnahmung Hölderlins durch die Nazipropaganda beigesteuert, sind aber kontextuell im Lichte von Hyperions kindlichem Glückstraum und insofern als vulkanartige Ausbrüche einer überhitzten Phantasie zu werten.30 Nicht zu übersehen ist zudem Hyperions Ernüchterungsprozess, dem zufolge er am Erzählanfang als exkommunizierter Exulant in die Heimat zurückkehrt. Der Klärungsprozess mündet in eine Bewusstseinskrise, der beizukommen einen Rückgriff auf Hölderlins Auffassung vom Kind erfordert.

Für Hölderlin ist das Kind mehr als ein zwischen Tier und Mensch schwebendes Sinnenwesen mit einer "raison sensitive ou puérile"31 und auch mehr als ein zerbrechliches, aber mit "Besonnenheit und Sprache" begabtes Naturgeschöpf: es ist ein göttliches Naturwesen, dessen Wurf in die Welt ihm noch nicht bewusst ist.32 Dem Kind schlage, so Hyperion, "die Freude der Unsterblichkeit in allen Pulsen" (XI 597), denn "es weiß vom Tode nichts" (XI 587)). Es führt in "der engvereinten Knospe seines Wesens" ein göttliches Inseldasein, in dem es einem unendlichen Wonnegefühl fröne (XI 678). Die geschichtslos vegetative, geradezu mythische Seinsweise, die einer Existenz vor der Zeit oder gar einer Präexistenz in der Zeit gleichkommt, sichert ihm Naturunmittelbarkeit und Nähe zur Göttlichkeit. Die Kindheit als vorrationale Wachstumsstufe ist weder Leben noch Tod, sondern etwas Drittes, in dem beides zusammenfließt: zeitloses Leben. Anders als Rousseau, dem es primär daran gelegen ist, dem Kind eine vorurteilsfreie Erziehung zukommen zu lassen, um aus ihm einen spartanischen "Robinson Crusoé" im gesellschaftlichen Zusammenhang zu machen, konzentriert sich Hölderlins Interesse vorwiegend auf das Kind als vorbewußtes Lebewesen aus zwei Gründen: zum einen entzieht es sich dem Zugriff der begrifflich sezierenden, als "kalte Erhabenheit" monierten Vernunft, und zum andern versinnbildlicht es eine dem antiken Heldentum analoge göttliche Erlebnisform, der ein Telos innewohnt, in dem die Tat als unmittelbarer Ausdruck des Wesens gilt (XI 680).33

Zu jener unsterblichen Seinsform hingerissen fühlte sich Hyperion von frühester Kindheit an, wovon die Worte des beichtenden Erzählers Kunde geben: "Ich liebte meine Heroen, wie eine Fliege das Licht; ich suchte ihre gefährliche Nähe und floh und suchte sie wieder" (XI 598). Diese auf tiefseelischer Verwandtschaft beruhende Affizierung ist für die Traumproblematik des Helden und dessen nachfolgenden panikartigen Freitodversuch bestimmend. So sehr der zu Beginn der Dichtung als Elegiker auftretende Erzähler die Spuren seiner Kindheit mit klagenden Tönen vermischt, so wenig kann der Leser sich der Einsicht verschliessen, dass der in der Kindheit keimhaft angelegte Heroenkult in die Jünglingszeit bruchlos hinübergleitet, um sich dort zum Titanischen auszuweiten. Das mitunter ossianisch getönte Elegische breitet [End Page 68] sich wie ein Trauerschleier über das Idyll der Kindheit, verdunkelt es sogar an manchen Stellen. Was zunächst als lineare Progression zum Vorschein kommt, enthüllt sich bei näherer Betrachtung als zeitaufhebende Erzählstrategie, durch die Hölderlin den Leser in eine zeitlose Überwelt hinaufführt. Daraus ist zu ersehen, dass Hyperions Verhältnis zu dem Dreigestirn Adamas, Alabanda und Diotima bis zum traumatischen Kriegserlebnis unter der Regie einer kindlichen Begeisterung steht, in der er sich geborgen fühlt. Der Einblick in diesen fließenden Übergang rückt die Rezeptionssteuerung durch den elegischen Erzähler in neue Beleuchtung.

Der Einstieg in die mythologische Welt der Kindheit lässt sich schon bei der Ankunft in Smyrna beobachten. Kaum auf der Insel angelangt, berauscht sich Hyperion derart an dem mütterlichen Naturschauspiel, dass er in der Farbenpracht "eine Braut" zu sehen vermeint (XI 601). Darin drückt sich ein Mißverhältnis zur Wirklichkeit aus, das ebenso seinem Narrenspiel mit der Smyrnaer Menschenwelt zu entnehmen ist. Durch das Prisma seiner kindlichen Begeisterung kommen ihm die Inselbewohner so vor, "als hätte sich die Menschennatur in die Mannigfaltigkeiten des Thierreichs aufgelöst," er ergötzt sich wonnetrunken an dem "Widersinn" ihrer Sitten und Bräuche wie an einer "Kinderposse" (XI 601–602). Mit dieser Realitätsverzerrung und dem Motiv von "Braut" und "Bräutigam" verknüpft ist die Begegnung mit dem Titan Alabanda, dessen Erscheinung dem Leser Hyperions Unbeholfenheit vergessen hilft und mithin die Illusion eines gleitenden Übergangs der Kindheit in die Jünglingszeit aufrechterhält. Hyperions Aussage, "meine Insel war mir zu eng geworden, seit Adamas fort war," soll den Leser nicht darüber hinwegtäuschen, dass der junge Held bei allem Ortswechsel dem Elysium seiner Kindheit verhaftet bleibt: er tauscht nur eine Insel gegen eine andere ein (XI 599). So gesehen ist die Szene mit Alabanda die Fortführung eines Kindheitstraums oder eine kindheitliche Phantasmagorie.

Im Titan "mit zärtlich wildem Blike," Alabanda, erblickt Hyperion ein Spiegel- und Traumbild seiner Selbst und nicht minder einen Vorboten seiner Heroenwelt (XI 606). Alabanda kommt ihm so entgegen:

Wie ein junger Titan, schritt der herrliche Fremdling unter dem Zwergengeschlechte daher, das mit freudiger Scheue an seiner Schöne sich waidete, seine Höhe maß und seine Stärke, und an dem glühenden verbrannten Römerkopfe, wie an verbotner Frucht mit verstohlnem Blike sich labte, . . .

(XI 605)

Unvermittelt entzündet Hyperion sich in Liebe für jene Riesengestalt. Die in diesen Zeilen offenliegende Homoerotik, vor deren Deutung die Hölderlinforschung immer wieder zurückscheut, ist zum Teil historisch aus den antiken Freundschaftsbünden zu erklären, die damals zur Steigerung des Kriegsmuts geduldet, geschweige denn gefördert wurden.34 Zugleich aber ist die Bindung an Alabanda als Teil einer Identitätssuche anzusehen, die aufs engste mit Hyperions androgyner Beschaffenheit zusammenhängt. Hyperion verkörpert [End Page 69] noch das Kind vor der Spaltung in Mann und Frau, d.h. die Einheit in der Zweiheit. Mit bezug auf den übermännlich gezeichneten Apostel des Willens, Alabanda, spricht Hyperion gern von gemeinsamen "Bräutigamstage[n]" (XI 614) und gedenkt der Momente, als sie "vertraulich umschlungen im Dunkel des immergrünen Lorbeers" in "Plato" lasen (XI 609). Wie innig beide Ziehbrüder über die Kindheit miteinander verwachsen sind, wird sprachlich-mimetisch durch ein kindliches Staccato vergegenwärtigt, das aus dem Mund des Riesen Alabanda der Komik nicht entbehrt:

Wenn ich ein Kind ansehe, . . . , und denke, wie schmählich und verderbend das Joch ist, das es tragen wird, und daß es darben wird, wie wir, daß es Menschen suchen wird, wie wir, fragen wird, wie wir, nach Schönem und Wahrem, daß es unfruchtbar vergehen wird, weil es allein seyn wird, wie wir, daß es—o nehmt doch eure Söhne aus der Wiege, und werft sie in den Strom, um wenigstens vor eurer Schande sie zu retten.

(XI 609)

Die Szene stellt zwei an Ungestüm und Titanentrotz einander überbietende Kinder dar, deren auf Totalität und Unschuld pochende Rhetorik sich bis in eine Kriegserklärung an die ganze Menschheit hineinsteigert. Hier stimmt Hyperion in Alabandas staatsfeindliche Feuerphantasien ein, um sich seiner Freundschaft zu vergewissern. Während Alabanda mit dem Bund der Nemesis auf eine Vernichtung der Kinder zerreibenden Staatsmaschinerie eingeschworen ist, träumt Hyperion von einer neuen Menschheit in einem "Freistaat," dem eine "heilige Theokratie des Schönen" zugrunde liege (XI 701). Beide Gestalten drücken nur aus, was die Schrift "Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus" (1796 oder 1797) im Anschluss an die damals weitverbreitete Kritik am mechanischen Staatswesen anstrebt: Die Auslöschung des Staates und "eine Mythologie der Vernunft."35

Beide Freiheitskämpfer verkörpern zwei voneinander abweichende Weltperspektiven, die sich jedoch im Bild der Kindheit durchkreuzen. Doch weniger Hyperion als Alabanda versinnbildlicht "die unverhüllte Gewalt des Terroristen".36 Darauf verweist die Schilderung des leidensunfähigen, weder von einem Gott noch von einem Sterblichen gezeugten Alabanda, der sich im Glauben wiegt, daß wir "durch uns selber und aus freier Lust so innig mit dem All verbunden" seien (XI 758). Ihm entgegen veranschaulicht Hyperion den von Reinheit durchseelten und von Jugendkraft strotzenden "Schwärmer," dessen massloses Verlangen nach Unmittelbarkeit ihn blind gegen die Wirklichkeit macht (XI 615, 619, 681). Hyperions Reinheitsgefühl macht sich eigens in der Szene bemerkbar, in der er sich beim Anblick der Räuberbande von Alabanda hintergangen fühlt: "Mir war, wie einer Braut, wenn sie erfährt, daß ihr Geliebter insgeheim mit einer Dirne lebe" (XI 618). Dies führt ihn wiederum dazu, nur noch in "kindlicher einfältiger Einschränkung" weiterzuleben (XI 621). Seiner Schmollecke entreisst ihn der Brief eines Bekannten, [End Page 70] dessen Einladung nach Kalaurea, Diotimas Insel, er Folge leistet. In Diotimas Schilderung tritt Hyperions Hermaphrodismus noch deutlicher zutage:

Wie ein trauernder Genius . . . , in Joniens zaubrischer Mailuft und sie macht' ihn blühender mir, sie lockt' ihm das Haar, entfaltet' ihm, wie Blumen, die Lippen,löst' in Lächeln die Wehmuth auf und o ihr Stralen des Himmels! wie leuchtetet ihr aus diesen Augen mich an, aus diesen berauschenden Quellen, wo im Schatten umschirmender Bogen ewig Leben schimmert und wallt!-

(XI 718)

Das griechische Götterkind kommt durch Diotimas Naturaugen wie eine ruhelos wogende Pflanzenbewegung in Erscheinung. Das Pflanzenhafte bindet ihn sogleich an die ätherleicht schwebende Erdgeborene, deren Wesenskern gelegentlich einer Blume angeglichen wird, an deren Duft Hyperion sich nachts berauscht (XI 687). Für Hölderlin kehrt in der gleichempfindenden schönen Seele der Frühling wieder, der "wie ein Kind vor sich spielt, und nicht weiter denkt" (XI 697). Hier knüpft Hölderlin an Schillers Spielkonzeption an, nach der der Mensch "nur da ganz Mensch" sei, "wo er spielt."37 Diotimas Nähe zur Musik enthebt sie der Schwere und Hyperion der Sprache. In ihrer lebendigen Ruhe und Rollenvielfalt stellt Diotima "das Eine in sich selber unterschiedne" bzw. die daseinhafte Schönheit dar, die das athenische Leben prägte (XI 681). Hyperion erblickt in Diotima den Widerglanz der langgeahnten Schönheit einer Präexistenz, d.h. die allvereinigende Idee, in der Wahrheit und Güte aufs innigste verquickt sind. Ihr kindheitliches Humanitätsideal fasst sie in die Worte:

Ich denke mir die Welt am liebsten, wie ein häuslich Leben, wo jedes, ohne gerade dran zu denken, sich in's andre schickt, und wo man sich einander zum Gefallen und zur Freude lebt, weil es eben so vom Herzen kömmt.

(XI 650)

Diotimas naives Humanitätsideal ähnelt dem "Wonnegesang des Frühlings," wie ihn Hyperion auf der Insel seiner Kindheit wahrnahm (XI 584). Gleich der heiligen Gnadenmutter vermittelt sie ihm in hingebungsvoller Zweisamkeit die Seligkeit seiner heimatlichen Insel und hält ihn zur Bändigung seiner Ungeduld an, die ihn bislang am Erkennen seines Schicksals hinderte.

Nicht hoch genug zu veranschlagen ist die als Herzstück der ganzen Dichtung zu betrachtende Überfahrt nach Athen, zumal es dort auf der als tote "Mutter" dargestellten Trümmerstätte zu einer Parallelsetzung von Athen und Diotima, von Tod und Leben, aber noch wichtiger zu einem Ineinander von beiden in Hyperions kindlicher Phantasie kommt. Dabei fühlt sich Hyperion so wohl, dass ihm die Worte entfahren: "Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von nichts, als meiner seligen Insel" (XI 688). In den Augen des Kindes verwandelt sich "das schöne Phantom des alten Athen" unter Diotimas beschwörenden Worten zu einer "aus dem Todtenreich" zurückkehrenden Muttergestalt, es wird unter Diotimas poetischem Hauch wieder lebendig (XI 684). Das Athen-Erlebnis mit Diotima kommt einer Parusie im platonischen und christlichen Sinne des Wortes gleich. Viel bedeutender noch als die [End Page 71] ihr von Hyperion zugeschriebenen Schönheitsattribute ist im Zusammenhang mit der Mutterthematik Diotimas Lebensrolle als Geburtshelferin, als welche sie sich im Augenblick ausweist, wo sie die Erlebnisse des schicksalhaft geprüften Knaben deutend in Worte kleidet. Gerade hier erweckt sie beim Leser den Eindruck, als habe sie bereits in Vorzeiten gelebt, weil sie über Hyperions Leben und Zukunft mehr weiss als er selbst. Vor dieser poetisch-metaphorischen Folie ist Hyperions stumme Ergriffenheit vor dem "alte[n] Tor" Athens zu verstehen, "wodurch man ehmals aus der alten Stadt zur neuen herauskam, wo gewiß einst tausend schöne Menschen an Einem Tag sich grüßten" (XI 686). Ähnlich einer der Antike entsprungenen Muse entbindet die Kindsfrau Hyperion von der Kindheit, indem sie ihm seine Sendung als "Erzieher" der Menschheit ans Herz bringt. Hyperions Spätreife deutet sie als ein Zeichen göttlicher Erwählung: "Wäre dein Gemüth und deine Thätigkeit so frühe reif geworden, so wäre dein Geist nicht, was er ist; du wärst der denkende Mensch nicht, wärst du nicht der leidende, der gährende Mensch gewesen." (XI 689). Auf den unbewussten Wurf in die Zeit folgt eine zweite Geburt: die geistige. Rousseau denkt noch in gesellschaftlichen Kategorien, wenn er den pubertären Übergang der Knaben- in die Jünglingszeit mit einer "zweiten Geburt" vergleicht: "Nous naissons, pour ainsi dire, en deux fois: l'une pour exister, et l'autre pour vivre; l'une pour l'espèce, et l'autre pour le sexe."38 Für Hölderlin aber endet die Kindheit nicht mit der Pubertät, sondern mit dem Bewusstein von der Zeit und der Einsicht in die Sterblichkeit.

Wie sehr Hölderlin zur Einkleidung jenes traumatischen Lebensabschnitts Rousseaus homerischer Bildlichkeit verpflichtet ist, zeigt sich in der Schilderung der pubertären Entwicklungsphase als einer rauschhaften Naturrevolution im Menschen, für deren Gefahr Ulysses' Schiffahrt durch die entfesselten Naturelemente ein überzeitliches Beispiel liefert.39 Das wie ein roter Faden die ganze Dichtung durchziehende Motiv des Schiffbruchs läßt sich sowohl auf das junge Leben des schiffbrüchigen Alabanda wie auch auf das Gleichnis Athens mit einem "unermessliche[n] Schiffbruch" beziehen (XI 685); es veranschaulicht aber auch Hyperions (Sirenen)-Erlebnis mit Diotima in Athen, das als ominöses Vorzeichen die Niederlage bei der Seeschlacht gegen die Türken vorwegnimmt. Wie eine Weissagung ertönt es aus dem Mund des erzählenden Hyperion: "Ich seh', ich sehe, wie das enden muß. Das Steuer ist in die Wooge gefallen und das Schiff wird, wie an den Füßen ein Kind, ergriffen und an die Felsen geschleudert" (XI 674). Weilnböck, der diese "Kindsmordphantasie" für den Roman als "singulär" bezeichnet, wird der Gewaltthematik der Dichtung kaum gerecht, hängt sie doch mit den wiederholten Regressionen zusammen, denen der Held mit der Kriegstat und seinem Freitodversuch ein Ende zu setzen beabsichtigt.40 Nägele hingegen kommt ihr einen Schritt näher, wenn er im "Gleiten vom Männlichen ins Weibliche" eine "Besänftigung und Idyllisierung" beobachtet, die zugleich "der geheime Grund" "für die gewaltsamen Ausbrüche" sei.41 Gleichwohl vollzieht sich dieses [End Page 72] Gleiten in beide Richtungen, zumal es sich aus Hyperions Zwittertum ergibt, das wiederum unzertrennlich mit dem Motiv der Kindheit verbunden ist. Die Frage, warum sich Hyperion nach seinem Athen-Diotima-Erlebnis in die Kriegswirren stürzt, hat die Hölderlinforschung immer wieder beschäftigt, ist aber nie befriedigend beantwortet worden.42 Es besteht kein Widerspruch zwischen Diotimas friedlichen, aber leidenschaftlich vorgetragenen Worten und der Kriegstat, wenn beide im Lichte von Hyperions Hermaphrodismus erfasst werden. Noch vor Erhalt des Briefes Alabandas vertraut Hyperion Bellarmin an, er sei immer "voll überwallenden heroischen Lebens," wenn er "aus ihren Umarmungen" gehe (XI 698). Alabandas Brief ist demnach der Auslöser, nicht aber die unmittelbare Triebfeder von Hyperions Schritt zur Tat. "Thatenwonne" und revolutionäre Naturmystik sind vom Diotima-Erlebnis und der Kindheitsthematik nicht wegzudenken (XI 712). Beide Prinzipien durchdringen einander im Krieg, der in Hyperions Glückstraum zu einer "Hoch"-zeit wird, von der er sich im Glücksfall Diotima als "Braut" oder im Todesfall—wie die Söhne des Zeus, Kastor und Pollux—eine Teilung der mit Lorbeer bekränzten Grabstätte mit Alabanda erhofft. In beiden Fällen wähnt er sich seiner Kriegsbeute sicher.

Hyperions zweifacher Vorsatz lässt sich mehrfach begründen. Die von de Man zu Unrecht als "Irrtum" monierte Szene zum Beispiel, in der Hyperion Diotima zur gemeinsamen Flucht in die kindliche Stille eines Alpen -oder Pyrenäentals auffordert, ist motivlich nicht anders als eine verzerrte Fortsetzung von Hyperions großem Glückstraum im Kleinen, d.h. dessen verzweifelte Rettung, zu werten.43 Davon zeugt auch Diotimas Brief an Hyperion, in dem die dahin Welkende ihm mitteilt, dass sie bewusst auf Kinder verzichte, denn sie gönne "sie der Sclavenwelt nicht" (XI 746). Entscheidend für das "Bräutigam"-Motiv ist andererseits der andachtsvolle Ritt zu Pferd durch die mythisch-geschichtlichen "Wälder des Ida," bei dem Alabanda in Zwiesprache mit Hyperion den kindlichen Wunsch äussert, mit ihm wie "die Heldenbrüder am Himmel" "in Einem Schlachtthal" "unter Einem Baum" beigesetzt zu werden (XI 619). Es gehört wohl zur Ironie der Dichtung, dass ausgerechnet Alabanda nach der Seeschlacht den durch freundliche Hand leicht verletzten Hyperion wieder findet und pflegt. Zum Tragi-Komischen trägt nicht minder Hyperions Freitodversuch bei, der nicht an einem Mangel an Opfermut scheitert, sondern an dem Unwillen des Feindes, dessen Todeswunsch zu erhören. Die ganze Ironie der Dichtung aber gipfelt in der Erkenntnis, dass der ansonsten ungebundene Freier Alabanda im Brautbett der Erinnerung den Platz neben Diotima einnimmt, den Hyperion sich selbst als potentieller Sieger zugedacht hatte. Dies mutet an wie eine chiastische Umkehr des Schlusses der Werther-Dichtung. Während Werthers minutiös ausgeführter Freitod am Erzählschluss ein religiöses Entgrenzungsbedürfnis stillt und mit Blick auf den Abschiedsbrief an Lotte auch Ausdruck eines irdisch-himmlischen Liebesvollzugs ist, wird Hyperion nach seinem mißlungenen Freitod der Wirklichkeit [End Page 73] zurückgegeben, mit der er als fluchbeladener Unbehauster vorliebnehmen muss. An dieser Ironie interpretiert Roche vorbei, wenn er in Zustimmung zur etablierten Hölderlin-Forschung im versöhnlichen Ton des Schlusses eine "Ruhe" sieht, die "ein kritisches Engagement in der Zeitgeschichte" nicht ausschließe.44 Die versöhnliche Schlussformel, in der Gleichheit und Brüderlichkeit mitschwingen, trägt nur dem Schönheitspostulat als uraltem Pneuma Rechnung, nicht aber der Identitätskrise Hyperions, die trotz der Aufhebung der Einheitskräfte Diotima und Alabanda, wenn auch in gemilderter Form, in seinem Erinnerungsbild weiterbesteht.

Abschließend fragen wir, ob Hölderlin im Hyperion nicht wie die griechischen Meister "in den Olympus" versetzt hat, "was auf der Erde sollte ausgeführt werden."45 Dafür spricht vor allem das ironische Erinnerungsbild wie auch Hyperions Rückfall in einen Nihilismus zu Beginn der Dichtung. Bei alledem hält der wiederkehrende Hyperion den "Kinder[n] des Augenbliks," deren "Herren" nur "Noth und Angst und Nacht" seien (XI 632), eine heroische Zeitkonzeption entgegen, die in der Einmaligkeit des Augenblicks das Zeitlose erfasst, denn "denke, daß es besser ist zu sterben, weil man lebte, als zu leben, weil man nie gelebt!" (XI 624). Dieser Spruch wird durch Diotimas Auferstehungsgedanken: "wir müssen sterben, um zu leben" zum Problem ästhetischer Produktion vertieft (XI 767). Wie heißt es wieder in dem Gedicht "An die Parzen"? "Einmal/ Lebt'ich, wie Götter, und mehr bedarf's nicht."46 In dieser Schlusszeile bekundet sich eine "antikisierend-christliche[n] Teilnahme am Leben der Götter, als der Unsterblichen schlechthin."47 Jener Heroismus der Stille, zu dessen Klassizität sich auch der alte Fontane durch die Gestalt Hansen-Grell in Vor dem Sturm (1878) bekannte, bleibt Hölderlins kindliches Signum, zugleich aber auch dessen überzeitliches Vermächtnis an die Nachwelt.48

Sylvain Guarda
United States Naval Academy

Footnotes

1. Hans-Heino Ewers, Kindheit als poetische Daseinsform. Studien zur Entstehung der romantischen Kindheitsutopie im 18. Jahrhundert. Herder, Jean Paul, Novalis und Tieck (München: Fink, 1989), 9. Beispiele von Kinderliteratur seien nach Ewers Angaben "in den 90er Jahren und um die Jahrhundertwende" "in den Romanen Jean Pauls, Goethes, Hölderlin, Tiecks und Novalis." Dieser Kritiker klammert aber Hölderlins Hyperion aus seiner eindringenden Studie aus.

2. Einen Einblick in die frühe Beschäftigung der Hölderlin-Forschung mit Jean Jacques Rousseau bietet Paul de Mans Studie "Hölderlins Rousseaubild," Hölderlin-Jahrbuch, Bd. XV (Tübingen: Mohr, 1967-68) 180-208.

3. Immanuel Kant, Über Pädagogik, eingeleitet v. Dr. D. Willmann, 2. Aufl. (Leipzig: Siegismund & Volkening, 1867-68) 62-63. Entgegen Rousseau war Kant der Ansicht, dass "Disziplin" als nötiger Bestandteil der Erziehung zur Autonomie und Freiheit des Individuums beiträgt. Für Kant gilt die Überwindung der "Tierheit" im Menschen als Voraussetzung für dessen Entfaltung zu Mündigkeit und Selbstbestimmung. Daher konnte Kant Rousseaus Idealisierung vom Wilden Menschen nicht beipflichten.

4. Schon in dem Journal meiner Reise im Jahr 1769 nimmt der junge Herder Stellung zu Rousseaus Verabsolutierung vergangener goldener Zeiten mit der Äusserung: "Das menschliche [End Page 74] Geschlecht hat in allen seinen Zeitaltern, nur in jedem auf andre Art, Glückseligkeit zur Summe; wir, in dem unsrigen, schweifen aus, wenn wir wie Rousseau Zeiten preisen, die nicht mehr sind und nicht gewesen sind." Sturm und Drang. Kritische Schriften, 3. Aufl. (Heidelberg: Lambert Schneider, 1972) 308.

5. Mustergültig für das in der Hölderlin-Forschung jahrzehntelang währende Entwicklungs paradigma ist Lawrence Ryans seinerzeit bahnbrechende Studie Hölderlins Hyperion. Exzentrische Bahn und Dichterberuf (Stuttgart: Metzler, 1965). Eine Infragestellung jenes Entwicklungsgparadigmas bietet Hansjörg Bays Aufsatzsammlung, deren Ziel darin liegt, "den Hyperion aus dem interpretatorischen Dornröschenschlaf zu wecken, in dem ihn die Literaturwissenschaft seit den 70er Jahren hat schlummern lassen." Hyperion-terra incognita: Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. ders. (Opladen; Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998) 11. Auf diese Aufsatzsammlung werden wir uns oft kritisch beziehen, da sie sich interpretatorisch an die Abgründe des Textes heranwagt.

6. So Ewers' Studie Kindheit als poetische Form.

7. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Erzählungen /Theoretische Schriften, Bd. V, 3. Aufl.; hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert (München: Hanser, 1962) 710.

8. Ebd. 697.

9. C.G. Jung und K. Kerenyi, Das göttliche Kind in mythologischer und psychologischer Beleuchtung (Leipzig: Pantheon Akademische Verlagsanstalt) 98.

10. Zitiert wird im folgenden aus der historisch-kritischen Frankfurter Ausgabe: Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. Hrsg. v. D.E. Sattler u. Michael Knaupp (Frankfurt a. M.: Stroemfeld, 1982). Die Seitenangaben des Hyperion beziehen sich auf den 11. Band dieser Ausgabe und werden direkt im Text in Klammern notiert.

11. Wolf Kittler, "Ödipus oder Ajax, Hyperions Weg von Korinth nach Salamis," Hyperion-terra incognita 212. Kittler analysiert das komplexe System von Verwandtschaftsverhältnissen, das sich aus den verschiedenen Fassungen ergibt. Auf die Frage, aus welchen Gründen Hölderlin seinen Personenbestand auf nur drei Charaktere außer Hyperion reduziert, bleibt er einer Antwort schuldig.

12. Stephan Lampenscherf verweist mit Recht auf die Einflechtung vieler platonischer Bezüge in den Roman, einschliesslich des Mythos von Kronos und Zeus. Er versäumt es aber, den Umschwung-Mythos mit der Dynamik der Charaktere zu verknüpfen. "'Heiliger Plato, vergieb . . .' Hölderlins Hyperion oder Die neue Platonische Mythologie," Hölderlin-Jahrbuch 28 (Tübingen: Mohr, 1992) 128-151, hier 150. Eine Anwendung des Mythos von Kronos und Zeus auf die Jahreszeiten im Hyperion findet sich schon bei Lawrence Frye, "Seasonal and Psychic Time in the Structuring of Hölderlin's Hyperion," Friedrich Hölderlin: An Early Modern. Ed. Emery E. George (Ann Arbor: U of Michigan P, 1972) 148-179.

13. Jean Jacques Rousseau, Émile ou De l'éducation (Paris: Editions sociales, 1958) 87.

14. Ebd. 126.

15. Ebd. 96.

16. Jürgen Link, "Spiralen der inventiven 'Rückkehr zur Natur.' Über den Anteil Rousseaus an der Tiefenstruktur des Hyperion," Hyperion-terra incognita 94-115, hier 99. Dieser Kritiker geht mit dem aus dem Émile stammenden Begriff des "Inventiven" den Rousseaubezügen in Hölderlins Roman nach, ohne sich jedoch auf das Konzept der Kindheit einzulassen.

17. Zu Hölderlins Festhalten an Spinozas "Deus sive natura" vgl. die Studie von Christoph Jamme "Ein ungelehrtes Buch. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800," Hegel-Studien. Hrsg v. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler (Bonn: Bouvier, 1983) 96-97.

18. Pascale Krumm, "Murs et matrices dans les Confessions de Rousseau," Symposium 44 (Winter 1990-91) 252-263.

19. Vgl. meinen Beitrag, "Gottfried Benns metaphysische Muttersuche: 'Eine Sturzgeburt nach innen,'" Seminar. A Journal of Germanic Studies 36.2 (2000) 194-210.

20. Schiller, Erzählungen / Theoretische Schriften 695.

21. Ebd. 699.

22. Mit diesem Aspekt setzt sich Mark Roches einsichtsvolle Studie auseinander. Vgl. Dynamic stillness. Philosophical conception of 'Ruhe' in Schiller, Hölderlin, Büchner, and Heine (Tübingen: Niemeyer 1987) 22.

23. Schiller, Erzählungen/Theoretische Schriften 669. [End Page 75]

24. Vgl. hierzu Gunter Martens' Untersuchung "'Das Eine in sich selber unterschiedne.' Das 'Wesen der Schönheit' als Strukturgesetz in Hölderlins Hyperion," Neue Wege zu Hölderlin. Hrsg. v. Uwe Beyer (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994) 185-198. Anders als Ryan (Exzentrische Bahn und Dichterberuf 135), der in dieser Formel eine Gleichsetzung der athenischen Menschlichkeit mit der Göttlichkeit erblickt, versteht Martens sie "nicht als Synthese," sondern "als ein Zugleich von Widersprüchen, als eine Identität von Nichtidentischem im Rahmen eines unteilbarem [sic] Ganzen" (190). Martens lehnt sich in seinem Argumentationsgang zu sehr an Fichtes "intellektuale Anschauung" an, die eine vermittelnde Stellung zwischen Idealität und Realität einnimmt (189). Er übersieht dennoch Hölderlins Verbundenheit mit Rousseau wie auch die Kindheitsthematik, die für eine Bestimmung der Schönheit ausschlaggebend ist.

25. Lampenscherf, "'Heiliger Plato, vergieb. . .'" 133.

26. G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden (auf der Grundlage der Werke von 1832-45 neu edierte Ausgabe-von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel), Bd. XIV. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971) 26.

27. Schiller, Erzählungen / Theoretische Schriften 669.

28. Hansjörg Bay, "Hyperion ambivalent," Hyperion-terra incognita 77.

29. Pierre Gaxotte, Die Französische Revolution, 2 Aufl. (München: König, 1973) 302-303.

30. Vgl. diesbezüglich Gerhard Kurz, "Hölderlin 1943," Hölderlin und Nürtingen. Hrsg. v. Peter Härtling und Gerhard Kurz (Stuttgart: 1994) 203-228.

31. Rousseau, Émile 44.

32. Herder, Sturm und Drang 450.

33. Rousseau, Émile 165. Rousseau gönnt seinem Sprössling als einzige Lektüre Robinson Crusoe, dessen Inseldasein er in seinem Argumentationsgand zum Vorbild für eine selbstgenügsame und vorurteilsfreie Erziehung erhebt.

34. Vgl. zu Hölderlins homoerotischem Verhältnis zu Isaak von Sinclair Pierre Bertaux' Studie "Hölderlin-Sinclair: 'ein treues Paar'?" Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin. Hrsg. v. Christoph Jamme und Otto Pöggeler, 2. Aufl. (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986) 189-194.

35. Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. I, 235.

36. Rainer Nägele, "Andenken an Hyperion," Hyperion-terra incognita 17-38, hier 30-31.

37. Schiller, Erzählungen / Theoretische Schriften 618. Im Brief vom 1. Januar 1799 möchte Hölderlin seine Kunst vom "Spiel" abgehoben wissen, weil es seiner Ansicht nach statt "Ruhe" nur "Zerstreuung" und "Leere" bewirke. Die Kunst gebe dem Menschen die "lebendige Ruhe, wo alle Kräfte regsam sind und nur wegen ihrer innigen Harmonie nicht als tätig erkannt werden. Sie nähert die Menschen und bringt sie zusammen, nicht wie das Spiel, wo sie nur dadurch vereinigt sind, daß jeder sich vergißt und lebendige Eigentümlichkeit von keinem zum Vorschein kommt." Offensichtlich mißversteht Hölderlin Schillers Spielkonzeption.

38. Rousseau, Émile 174.

39. Ebd. 175.

40. Harald Weilnböck, "'wie an den Füßen ein Kind, ergriffen und an die Felsen geschleudert.' Die Gewaltthematik in Hölderlins Hyperion in beziehungsanalystischer Perspektive," Hyperion-terra incognita 135.

41. Rainer Nägele, "Andenken an Hyperion" 32.

42. Christoph Prignitz stellt sich erneut diese Frage, unterschätzt aber Hyperions Schwärmen, das unter dem Einfluß vom Athen-Diotima-Erlebnis über die Wirklichkeit hinauschiesst. "Der Vulkan bricht los. Das Kriegsmotiv in Hölderlins Hyperion," Der deutsche Roman der Spätaufklärung; Fiktion und Wirklichkeit (Heidelberg: Winter, 1990) 95.

43. Paul de Man, "Hölderlins Rousseaubild" 189.

44. Roche, Dynamic stillness 247.

45. Schiller, Erzählungen / Theoretische Schriften 618.

46. Vgl. diesbezüglich Rolf Zuberbühler, "'Einmal/ Lebt' ich, wie Götter, und mehr bedarf's nicht.' Fontanes Auseinandersetzung mit Hölderlin und der Romantik in Vor dem Sturm," Fontane, Kleist und Hölderlin. Hrsg. v. Hugo Aust, Barbara Dölemeyer, Hubertus Fischer (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005) 107-120.

47. Ernst Bloch, Gesamtausgabe. Das Prinzip Hoffnung, Bd. V (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1959) 1370-71. [End Page 76]

48. Vgl. hierzu Rolf Zuberhübler Fontane und Hölderlin: Romantik-Auffassung und Hölderlin Bild in 'Vor dem Sturm" (Tübingen: Niemeyer, 1997) 114: "Fontane hat an Hölderlin manches nicht gesehen, konnte es als Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts nicht sehen. Hölderlins künstlerische Meisterschaft aber, seine Vaterlandsliebe und seine unbedingte Treue zum Dichterberuf hat er erkannt und in Vor dem Sturm, diesem bedeutenden, vielschichtigen, bis heute noch nicht genug gewürdigten Werk, verherrlicht." Bei aller Einsicht in die Andersartigkeit beider Dichternaturen entgeht diesem Kritiker das Motiv der Kindheit, dem Fontane mit der autobiographischen Schrift Meine Kinderjahre (1892-93) hohe Würdigung zollt. Auch das griechische Kostüm im Romanwerk und der Todesbegriff werden in dieser vergleichenden Studie kaum beachtet. Ein Ansatz dazu findet sich in der Arbeit des Verf. Schach von Wuthenow, Die Poggenpuhls und Der Stechlin: Fontanes innere Reisen in die Unterwelt (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997) 15-16. [End Page 77]

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