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Reviewed by:
  • Das verschlafene 19. Jahrhundert? Zur deutschen Literatur zwischen Klassik und Moderne
  • Gerhard P. Knapp
Hans Jürgen Knobloch und Helmut Koopmann, Hrsg. Das verschlafene 19. Jahrhundert? Zur deutschen Literatur zwischen Klassik und Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. 205 S. € 26. ISBN 3-8260-2897-X.

Tagungsbände sind bekanntlich Glückssache. In diesem Fall stand ein recht guter Stern über dem Symposium vom März 2004 in Johannesburg, das es sich zum Ziel setzte, "einige interessante Schlaglichter auf das literarische Panorama des 19. Jahrhunderts" (9) zu werfen. Auch nur halbwegs Eingeweihte werden über den ironisch pointierten Titel des Bandes schmunzeln, denn kaum eine andere Zeitspanne in der deutschsprachigen Literatur hat mehr Heterogenität, größere Kontraste und innere Spannungen und eine breitere Vielfalt von Themen und Tendenzen aufzuweisen als das 19. Jahrhundert. "Verschlafen" war es also keineswegs, trotz vor- und nach-märzlicher Zensur, trotz der Repression fortschrittlicher Strömungen allenthalben und auch angesichts gewisser bürgerlicher bzw. "heimatlicher" Rückzugstendenzen in seiner zweiten Hälfte, die ihrerseits so unpolitisch gewiß nicht sind und auch ihre dunklen Subtexte selten ganz verbergen. Helmut Koopmann betont im Vorwort: "Restauration und Revolution sind treibende Kräfte" (9), und ihre offene oder unter-schwellige Dialektik prägt die literarische Produktion der Zeit.

Durchweg gelungen sind die Beiträge mit übergreifender Thematik. Hans-Jörg Knobloch ("Literatur und Politik im neunzehnten Jahrhundert") reibt sich – wie auch andere der Beiträger – an den diversen Fehlurteilen einer jüngst veröffentlichten, unergiebigen Literaturgeschichte (Heinz Schlaffer. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2002) und gibt einen spannenden Abriss von Entwicklungen der [End Page 78] Zeit, angefangen mit den anhaltenden Schockwellen der Französischen Revolution über die Politisierung der 1830er und 1840er Jahre bis hin zum Entdecken der Sexualität und eines breiten Klassenspektrums im Naturalismus. Helmut Koopmann ("Heimat, Fremde und Exil im neunzehnten Jahrhundert") bringt das der Zeit eignende Exil- und Fremdheitstrauma in Verbindung mit "der Erfahrung, ständig in einer Übergangszeit zu leben, ohne je eine neue Zeit zu erreichen" (29). Dass dies auch uns Heutigen vertraut ist, braucht kaum eigens betont zu werden. Hier finden sich gute Einsichten vor allem zum Heimatverlust bei Börne, Heine, Chamisso und "der" Droste – zur letzteren ungeachtet des unschönen Artikels, der Autorinnen immer noch angehängt wird. Keith Bullivant gibt einen interessanten, gedrängten Überblick deutscher Gesellschaftsromane der Zeit von Immermann bis Raabe. Im Anschluss daran sollte man weiterblättern und gleich die ebenfalls diversen Romanen geltenden Einzelstudien lesen: Karl S. Guthke ("'Nicht einmal Malabrisch?' Immermann und 'die große Öffnung in die weite Welt'") beschäftigt sich mit dem "Drang in die weite Welt" (70) in Romanen, mit spezifischer Blickrichtung auf Immermanns Münchhausen. Wie Komplementärtexte lesen sich die hervorragenden Studien von Eckhardt Momber ("'Alles geht nämlich unterirdisch vor sich…' Fontanes Effi Briest oder die Falle Natur") und Manfred Durzak ("Der Zeitroman Friedrich Spielhagens. Am Beispiel von Zum Zeitvertreib"), nicht nur in bezug auf den Stoff der Romane, sondern auch im Kontrast der jeweiligen Erzählstrategien. Fontane macht die "Bodenlosigkeit" (121) als Abgrund unter dem Gesellschaftsleben spürbar, während Spielhagen Heuchelei und Dünkel des Adels an den Pranger stellt.

Unter den verbleibenden Beiträgen seien nur einige herausgegriffen. Karl Bartsch ("Nestroy und das Geld") untersucht die "materialistische" Sicht, die Nestroy gesellschaftskritisch in einigen seiner Possen und in anderen Stücken entfaltet und mit der er geschickt die Zensur unterläuft, und betont einmal mehr die radikale Modernität des Autors. Manfred Misch ("'Und schmeiß ihn an den Kopp!' Wilhelm Buschs in Holzschuhen tanzende Muse") beleuchtet eindringlich das ästhetisch subversive Programm Buschs, seinen Schopenhauerschen Pessimismus und die Kultur- und Moralkritik, die dem Autor bei Zeitgenossen den Vorwurf der Unsittlichkeit eintrug. Natürlich darf Büchner nicht fehlen in dieser Sammlung. Theo Elm ("Georg Büchner: Zeitgeschichte in Leonce und Lena") versucht sich an einer Lektüre des Texts "als eines deutungsoffenen Möglichkeitsentwurfs" (95) und will ihn in eine Tradition einreihen, die zu Becketts Warten auf Godot hinführt. Dass dieser Schuh nicht passt, weiß man freilich schon seit den 1970er Jahren. Christine Maillard ("Die Arbeit am Mythos Wissenschaft") geht dem "Spannungsfeld von Kunst, Wissenschaft und Sinnfindung" (157) im...

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