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Seminar: A Journal of Germanic Studies 42.2 (2006) 135-154



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Die Zikadenmetapher in Ingeborg Bachmanns Die Zikaden:

Lebensflucht und Lebensmut

University of Thessaly

In Ingeborg Bachmanns Hörspiel Die Zikaden (Bachmann I, 217–68), das 1954 entstand und am 25. März 1955 mit Hans Werner Henzes Musik im NWDR Hamburg urgesendet wurde (Bachmann I, 661), spielen die Zikaden eine wesentliche Rolle für die Interpretation des Werkes. Zwar gehören sie nicht zu den dramatis personae, aber sie sind über das ganze Stück verteilt nachdrücklich präsent, und mehrere Personen des Spieles sind in einem bestimmten Sinne mit den Zikaden identifizierbar. Dass die Zikaden dem Hörspiel außerdem geradezu den Namen geben, weist auf ihre besondere Relevanz hin.

Mit der Titelwahl, der Ausführung des Motivs von den Zikaden im ganzen Stück und der Formulierung des letzten Absatzes (268) weist Bachmanns Hörspiel auf dessen eigenen Bezug zu Platon, und zwar zu denjenigen Stellen im Dialog Phaidros, wo das Zikadenmotiv entwickelt wird. Zwar wäre an Bezüge zu anderen literarischen Werken zu denken, in denen das Zikadenmotiv eine wichtige Rolle spielt, vor allem Goethes Gedicht "An die Zikade" (Beicken 111; Funke 21; Schönberger 121), das Bachmann wohl hat kennen können. Jedenfalls hat sie dieses Gedicht, aus dem der Geist des Phaidros-Mythos doch "gut platonisch" spricht, ähnlich umgedeutet wie den platonischen Text (Funke 21). Die Zikaden sind nämlich auch bei Goethe bedürfnislose musische Wesen, die zwischen den Menschen und den Göttern stehen und "fast den Göttern zu vergleichen" sind (so der letzte Vers von Goethes Gedicht), aber die Abwesenheit jeglicher Anspielung in Bachmanns Text auf Formulierungen in Goethes Gedicht, die nicht schon bei Platon zu konstatieren sind, legt die Annahme nahe, dass Goethe und Bachmann jeweils aus ihrer eigenen Perspektive das platonische Modell aufgegriffen haben, ohne dass die Österreicherin zusätzlich einen Bezug zu Goethe anstrebte. So untersucht vorliegender Artikel das Zikadenmotiv und die damit verbundene Intertextualität mit Platon, um Bachmanns wesentlich unterschiedliche Benutzung des Motivs und dessen Einbindung in ihre Lebensphilosophie in Bezug auf Lebensflucht und Lebensmut zu zeigen. [End Page 135]

Bachmann schrieb Die Zikaden 1954, als sie als freie Schriftstellerin mit Hans Werner Henze auf der italienischen Insel Ischia lebte. Die existenziellen Erfahrungen dieser zwei sowie anderer Künstler, die sich in den fünfziger Jahren nach Italien zurückzogen (Hédrich 174), beschreibt Henze unmissverständlich in "Die Krise des bürgerlichen Künstlers": "So baute ich in Italien um meine Person und meine Arbeit eine eigene Welt auf, aus meinen Vorstellungen, meinen Wünschen und Träumen. Ich merkte nicht, wie ich mich dabei zusehends isolierte. Wie meine Musik immer privater wurde [...] ich merkte, dass ich in einer Einöde lebte, wo man aufhört zu denken und sich nur noch mit Gefühlen abgibt, Gefühle kultiviert" (145–46; zitiert von Höller 100). Damit ist nicht nur das kulturelle Klima konkretisiert, in das Die Zikaden zu stellen ist, sondern es sind auch wichtige Stichwörter gegeben, die die Thematik dieses Textes umreißen: "eine eigene Welt," "Wünsche," "Träume," "sich isolieren" – man denke nur an die zunehmende Vereinzelung von Bachmann selbst in späteren Jahren (vgl. Beicken 190) – "Musik," "privat," "Einöde" und "Gefühle."

Tatsächlich geht es in diesem Hörspiel um die Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit, die viele Zeitgenossen Bachmanns unternahmen und die die Autorin anhand der Insel- und Zikadensymbolik bildlich darstellte. Es werden eine Reihe von Personen oder Stimmen vorgeführt, die alle als metaphorische "Schiffbrüchig(e)" (222; vgl. Tunner) auf einer Urlaubsinsel Zuflucht suchen. Hauptfigur ist Robinson, den die "fortgesetzten kleinen Gemeinheiten" (259) des Alltags auf die Insel, d. h. in eine Traumexistenz, getrieben haben. In drei Ge-sprächen mit einem Gefangenen, der von der benachbarten Gefangeneninsel auf Robinsons Urlauberinsel geflohen ist, wird Robinson zur Stellungnahme zu seinem eigenen Fluchtversuch (aus der Wirklichkeit) gezwungen und schließlich in der Auseinandersetzung mit dem Gefangenen sowie durch seine persönliche Reaktion auf die Herausforderung der Zikaden zur...

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